Durch Zufall fiel mir neulich ein Buch in die Hand, dass ich vor vielen Jahren gekauft und auch angefangen, aber nach den ersten Seiten wieder ins Regal zurück gestellt hatte.
Das Buch heißt "The Art of Possibility" von Benjamin Zander und Rosamund Stone Zander.
Es ist nur auf Englisch erhältlich und nicht ganz leicht zu lesen, was wohl auch der Grund war, weshalb ich beim ersten Anlauf nicht über das Vorwort hinaus gekommen bin.
Inzwischen habe ich mich sehr viel mit ähnlichen Themen befasst und hatte deshalb sofort einen Zugang - trotz einiger fehlender Vokabeln.
In "The Art of Possibilities" ("Die Kunst der Möglichkeiten") geht es in erster Linie darum, dass wir unsere Perspektive erweitern sollten, um so die große Vielfalt an Möglichkeiten zu sehen und zu nutzen, die uns zur Verfügung stehen: Jeder Mensch verfügt über ein individuelles Mindset, das sich aus seinen persönlichen Erfahrungen und Prägungen zusammen setzt und das maßgeblich bestimmt, wie wir andere Menschen, Situationen und Probleme betrachten und einordnen. Wenn wir dieses Mindset aufbrechen und die selbstverständlichen Annahmen, die wir tagtäglich hunderte Male machen, in Frage stellen, so öffnen wir uns für neue, kreativere Lösungen. Es ist sozusagen der Schlüssel zu grenzenloser Kreativität.
Um das zu verdeutlichen bedienen sich Mr. und Mrs. Zander einer einfachen Knobelei, die die meisten von euch wahrscheinlich irgendwo schon mal gesehen haben. Die Aufgabe lautet:
Verbinde alle neun Punkte der Grafik mit vier geraden Linien ohne den Stift dabei abzusetzen.
Interessanter Weise versucht jeder, der sich zum ersten Mal an diesem Rätsel versucht, die Striche innerhalb des Rahmens zu ziehen, der durch die äußeren acht Punkte vorgegeben ist. Das Gehirn erzeugt automatisch eine Begrenzung, an der es sich orientiert. So ist es jedoch unmöglich alle Punkte mit vier Linien zu verbinden:
Sobald man den Satz hinzufügt: "Du kannst das gesamte Papier benutzen", ist die Lösung plötzlich ganz leicht:
Der Rahmen oder die Begrenzung, die wir selbst erschaffen, definiert, was wir für möglich halten. Erweitern wir den Rahmen, ergeben sich neue Möglichkeiten und Lösungen.
Ein gutes Beispiel für diese selbst erschaffene Denkbegrenzung findet man in dem Buch "Die 7 Wege zur Effektivität" von Stephen Covey - eins meiner Lieblingsbücher, das ich bestimmt an anderer Stelle noch einmal vorstellen werde:
Der Autor beschreibt eine Situation, in der er in einer U-Bahn sitzt und ein Mann mit seinen vier Kindern zusteigt. Der Mann setzt sich auf einen freien Platz und schließt die Augen, während seine Kinder völlig durchdrehen. Sie toben durchs Abteil, sind sehr laut und stören die anderen Fahrgäste. Der Mann sitzt weiterhin mit geschlossenen Augen da und tu nichts.
Mehrere Fahrgäste geben sich sichtlich entrüstet und der Autor beschließt, den Mann anzusprechen. Er sagt sinngemäß: "Entschuldigen Sie bitte, aber Ihre Kinder sind sehr laut und stören andere Fahrgäste, könnten Sie sie bitte ein wenig unter Kontrolle bringen?"
Der Mann öffnet die Augen, schaut ihn ganz überrascht an und sagt: "Oh, bitte entschuldigen Sie vielmals, ich habe das gar nicht bemerkt. Wir kommen gerade aus dem Krankenhaus, ihre Mutter ist vor einer Stunde gestorben. Ich bin noch ganz durcheinander und weiß im Moment einfach nicht, wie es weiter gehen soll."
Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie sehr sich eine Situation verändern kann, wenn wir sie mit einem anderen Mindset betrachten. Und wie gefährlich vorschnelles Urteilen ist.
Wir sollten uns also stets folgende Fragen stellen: Wie beeinflussen die Annahmen, die ich mache, das Bild, was ich sehe?
Wie kann ich meinen Rahmen aufbrechen oder erweitern, so dass sich neue Handlungsoptionen und Möglichkeiten ergeben?
Das gesagt, komme ich nun zum eigentlich Thema dieses Blogbeitrags:
Giving an A.
"Giving an A" ist ebenfalls ein Konzept aus "The Art of Possibilities", das mich seitdem fast täglich begleitet und insbesondere in der Erziehung meiner Kinder, aber auch in der Beurteilung meiner eigenen Arbeit immer wieder zum tragen kommt.
"Giving an A" bedeutet soviel wie "eine 1 geben". Es bezieht sich auf die Schulnote – im Amerikanischen Schulsystem entspricht ein A nämlich der deutschen Schulnote 1.
Die 1 wird allerdings nicht für eine vollbrachte Leistung vergeben, sondern vorab. In einer Schulklasse würden also zu Beginn des Schuljahres alle Schüler eine 1 für das Zeugnis am Schuljahresende erhalten – ohne bewiesen zu haben, dass sie sie verdienen.
Auf den Alltag gemünzt bedeutet "Giving an A" Zutrauen zu haben in die Fähigkeiten und das Potenzial des anderen, bzw. in das eigene.
Insbesondere bei unseren Kindern neigen wir dazu, bestimmte Annahmen zu machen und oft - aus Fürsorglichkeit, um Streit oder Stress zu vermeiden oder um die Kinder vor unangenehmen Erfahrungen zu schützen - sehen wir Dinge voraus, die aus unserer Erfahrung heraus eintreten KÖNNTEN, aber bei weitem nicht MÜSSEN und handeln dementsprechend.
"Vorsicht, du fällst gleich herunter, halt dich bloß gut fest!" – " Oh, lass mich das lieber einschenken, sonst kippt das Glas noch um!" – "Das kannst du noch nicht, lass mich das mal machen" und so weiter...
Es ist ein großes Geschenk für unsere Kinder, die Beziehung zu unseren Kindern und auch für uns selbst, wenn wir bewusst Zutrauen geben. Auch wenn wir schon oft die Erfahrung gemacht haben, dass bestimmte Dinge eben nicht klappen, so sind die Kinder in einer Phase der ständigen Entwicklung und des Lernens, d.h. es kommt unweigerlich der Punkt, wo sie bestimmte Dinge können, die sie bis dato vielleicht noch nicht konnten.
Wenn wir Vertrauen in ihre Fähigkeiten zeigen, ermutigen wir sie immer wieder anstelle ihn von vornherein Dinge abzusprechen. Und noch viel wichtiger: Wir lehren sie so, Zutrauen in sich selbst zu haben. Wir lehren sie, sich eine 1 zu geben.
Das gleiche gilt für uns selbst. Meine größte Motivation ist das Wissen, dass ich meine eigenen Gewohnheiten, ungesunde oder unproduktive Denkansätze verändern kann. Wir neigen dazu, eigenes Fehlverhalten mit bestimmten Glaubenssätzen zu entschuldigen, die tief in unserer Selbstwahrnehmung verankert sind. "Ich bin da einfach nicht konsequent genug, um das durchzuhalten, das ist halt meine größte Schwäche." – "Ich bin nicht der Typ, der so etwas macht." – "Mir fehlen dazu einfach die Ideen, die Kreativität."
Falsch. Wenn wir von vornherein Argumente finden, warum etwas nicht klappen kann, wir etwas nicht auf die Reihe kriegen, dann dienen sie als Entschuldigung dafür, dass wir es gar nicht erst richtig versuchen. Geben wir uns selbst aber von vornherein eine 1, machen wir die Annahme, alles tun zu können, was wir möchten.
Und tatsächlich ist das der entscheidende Faktor, wenn es um das Durchsetzen von Vorhaben geht: Überzeugt zu sein, dass man es tun kann und sich nicht davon abbringen lassen. Es gibt Untersuchungen, die genau das belegen: Vergleicht man die Lebensentwürfe von erfolgreichen Menschen, ganz egal, in welchem Bereich sie erfolgreich sind - ob der Physiker Albert Einstein, der Erfinder Thomas Edison oder der Menschenrechtler und Freiheitskämpfer Nelson Mandela - sie alle haben gemeinsam, dass sie absolut passioniert und fokussiert ihre Ziele verfolgten und vollkommen überzeugt waren, sie erreichen zu können.
Sie gaben sich eine 1.
In diesem Sinne: Vergebt Einsen. Und habt ein sonniges, kreatives Wochenende!
Bis bald,
Joanna
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